Es ist unser zweiter Abend auf Korsika. „Haben wir jemals so einen entspannten Urlaub zusammen gemacht?“, unterhalten Peter und ich uns bei unserer Küstenwanderung am Nachmittag. „Wo wir auf Campingplätzen übernachten, statt wild zu campen und tagsüber einfach nur Wandern und Radfahren. Ganz ohne Abenteuer und Gefahren?“. Zuvor waren wir uns schnell einig, von unserem üblichen Schema – dem Wildcamping – abzuweichen und stattdessen offizielle Camping- oder Wohnmobilstellplätze anzusteuern. Es ist Nebensaison und die Plätze auf Korsika sind schön gelegen und dazu kostengünstig. Und am wichtigsten: wir müssen uns vor niemandem verstecken, sondern können Tisch und Stühle aufbauen ohne Angst zu haben, „erwischt“ oder weggeschickt zu werden. Eben vollkommen entspannt.
Noch gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang kommen wir an diesem zweiten Abend auf der Insel am anvisierten Wohnmobil-Stellplatz an, den eine Kollegin von Peter zuvor als besonders schön empfohlen hatte. Schnell schnappen wir uns ein Bierchen und laufen zum Strand – noch gerade rechtzeitig, um das allabendliche Naturschauspiel zu bewundern. Wir befinden uns auf der Westseite Korsikas am sogenannten Cap Corse und haben damit freie Sicht auf den bald ins Meer tauchenden Feuerball. Zufrieden trinken wir unser Bier aus. Die dunklen Steine des Steinstrandes wärmen von unten noch nach. Die Information „Steinstrand“ soll später nochmal relevant werden…
„Scherben bringen Glück“ …manchmal
Wir kochen im Van und schauen noch einen Film, bevor wir gegen halb eins zu Bett gehen. Nicht ganz eine Stunde schlafen wir, als ich plötzlich aufschrecke. Wir schlafen quer im Campervan und so ist unser Bett eher kurz. Wie so oft, wenn ich mich nachts strecke, drücke ich daher mit meinem Fuß gegen die Scheibe. Und diese hat soeben ein Geräusch gemacht, wie wenn man im Winter auf einen nichts vollends zugefrorenen See tritt. Habe ich mit meinem Fuß die Scheibe kaputt gemacht? Habe ich so fest gedrückt, dass das Glas gerissen ist? Geht so etwas überhaupt? Irritiert wecke ich Peter und beichte ihm meinen Fauxpas. Es ist unschwer zu erkennen, dass er meine Schilderung für reichlich dämlich hält. Mit dem Fuß das Fenster rausgedrückt. Klar!
Wir schalten dennoch das Licht an, um nachzugucken. In dem Moment zersplittert mit einem lauten Knall die zweite Scheibe in 1000 Teile, diesmal vorne im Essbereich. Weit weg von meinem Fuß. Was in aller Welt war das? Ein 5-Mark-Stück-großes Loch ist auszumachen. Noch glaube ich daran, dass die Physik schuldig ist und erinnere mich an einen besonders heißen Sommer in meiner Kindheit, in dem sich ein Spiegel aufgrund der Hitze nachts vom Kleber gelöst hatte und ohne Vorwarnung auf den Fußboden zerschellt ist. Noch denke ich, es handele sich um irgend so etwas. Denn was sonst soll hier los sein?!
Peng! Peng! Weitere Löcher bilden sich in der bereits gesplitterten Scheibe. „Das sind Schüsse! Da schießt einer auf uns!“, wird Peter klar und reißt uns beide zu Boden vom Fenster weg. Alles geht unheimlich schnell, wir begreifen noch immer nicht vollends, was gerade vor sich geht. „Ich schlafe, ich habe einen Alptraum. Ich muss aufwachen!“, brüllt Peter in einer Tonlage, die ich noch nie zuvor gehört habe. „Ich glaub nicht. Ich bin auch wach“, entgegne ich ebenso panisch, „Ich glaube, das passiert wirklich“. Noch nie fiel es mir schwerer zu widersprechen. Wir müssen die Polizei rufen! Ich greife mein Handy und wähle zitternd die 112. Nach einer kurzen Bandansage meldet sich ein Mann.
- „Bonjour, c’est la police?“, frage ich hektisch. („Guten Tag, ist das die Polizei?”)
- „Nein, das ist die Feuerwehr. Polizei ist 17“, antwortet der Mann am anderen Ende der Leitung auf Französisch.
Ich lege auf, wähle die 17. Mein Handy will wissen, ob ich die 17 im Heimat- oder Roamingland erreichen möchte. Mist! Die Nummer funktioniert vom deutschen Handy nicht. Erneut versuche ich die 112, diesmal verbindet mich die Feuerwehr. Die Gendarmerie Nationale meldet sich nach kurzer Wartezeit.
- „C’est un cas d’urgence! Nous sommes touristes es nous sommes à la plage d’Albo sur le camping. Quelqu’un nous attaque. Nous avons peur de mourir“, berichte ich. („Das ist ein Notfall! Wir sind Touristen und sind am Strand von Albo auf dem Campingplatz. Jemand attackiert uns. Wir haben Angst, zu sterben“)
- „Wo sind Sie?“
- „Plage d’Albo. A-L-B-O. Cap Corse.“
- „Kenne ich nicht. Wo soll das sein? Wie heißt die Stadt?“
Ist das ein schlechter Scherz? Die Polizei kennt den Ort nicht? Ich schaue parallel auf Google Maps, was hier sonst noch in der Nähe ist. Warum tut die Polizei nicht einfach das gleiche?
- „Plage d’Albo, près d’une ville qui s’appelle Ogliastro. O-G-L-I-A-S-T-R-O,“ buchstabiere ich. („Strand von Albo, nahe einer Stadt, die Ogliastro heißt.“)
Immer noch kein Geistesblitz bei meinem Gesprächspartner. Das Spielchen wiederholt sich noch mehrere Male und inzwischen glaube ich, Peter hat Recht, dass das alles hier ein Alptraum sein muss. „Nordwesten von Korsika! Wir werden…“, führe ich ungefragt weiter fort. Mist! Was heißt „schießen“ auf Französisch? „Quelqu’un fait Peng! Peng!“, versuche ich es in meiner Not. „Quelqu’un essaye nous tuyer. Nous sommes dans une camping-car.“ („Jemand macht Peng Peng. Jemand versucht uns zu töten. Wir sind in einem Campingwagen“). Der Beamte versteht nicht. In aller Seelenruhe nimmt er weiter unsere persönlichen Daten auf. Ich suche händeringend nach Wörtern, die Schüsse erklären: „Pistole! Peng, Peng!“ Wie zur Untermalung meiner Beschreibung treffen in dem Moment mit lauten Knallen drei weitere Schüsse in unsere Scheibe. Wir stehen komplett unter Beschuss. Nicht mal eine Sekunde liegt zwischen den Einschlägen ins Glas. In absoluter Todesangst schreien Peter und ich ins Telefon. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass unser letztes Stündchen geschlagen hat.
„Die bringen uns um!“, brüllt nun auch Peter voller Adrenalin. „Wir müssen hier raus!“. Halb damit rechnend nun direkt in den Lauf einer Waffe zu blicken, öffnet Peter vorsichtig die Seitentür. Die befindet sich glücklicherweise exakt auf der anderen Seite als die Schüsse herkommen. Niemand ist zu sehen. Der ganze Campingplatz wirkt ruhig. Kein anderes Fahrzeug hat das Licht an oder wirkt auffällig. „Wo sollen wir hin?“, will ich wissen. Wir beraten uns in Sekundenschnelle. „Wollen wir nicht lieber versuchen wegzufahren?”, schlage ich vor. „Nein, dann sind wir tot, wenn die auf das Fahrerhaus schießen, das geht nicht. Nimm dein Handy und den Autoschlüssel. Wir kriechen da vorne durchs Gras in Richtung Strand“, weist Peter mich an.
Dann geht es auch schon los. Bei erloschenem Licht entwischen wir hoffentlich ungesehen durch die Seitentür ins kniehohe Gras. Wie bei einer Militärübung robben wir um Leben und Tod durchs Gebüsch. Es ist wie im TATORT, wenn das Opfer verzweifelt vor seinem Mörder durchs Unterholz zu fliehen versucht. Nur bin ich mittendrin. Alles ist viel zu real und surreal zugleich. In dem Moment rechne ich die Chancen, dass mindestens einer von uns es nicht schafft, höher aus als umgekehrt. Den Sonnenaufgang werden wir wohl nicht erleben. Nicht beide. Nicht unverletzt. Doch es ist keine Zeit zum Grübeln.
Irgendwann erreiche ich ein Waldstück und wechsle im Schutz der Bäume vom Krabbeln aufs schnellere Rennen. Wie eine Irre sprinte ich vorbei an einem weiteren Wohnmobil in Richtung Strand und entscheide mich spontan bei einem orangefarbenen Bulli Hilfe zu suchen. Auf gut Glück reiße ich an der Türklinge und zu meiner Verwunderung ist diese unverschlossen. Ohne nachzudenken springe ich in den Van und lande direkt im Bett zweier zu Tode erschrockenen Hamburger. Wenige Sekunden später folgt Peter. Wie aus einem Wasserfall sprudelt es aus mir heraus. „Ok wir glauben euch“, verdauen die Hamburger den ersten Schock des unerwarteten Besuches. „Wir müssen hier weg, fahrt los!“, weise ich sie eindringlich an. „Euer Bulli wird einer der nächsten sein!“. Zu diesem Zeitpunkt gehen wir alle vier von einem Amoklauf auf dem Campingplatz aus. Oder ein systematischer Raubüberfall. Im Hintergrund hören wir weitere dumpfe Schläge auf Blech und Schüsse ins Glas. Oh je! Jetzt nehmen sie unsere Karre endgültig auseinander…
„Wir können hier noch so schnell weg. Unsere Markise muss erst abgebaut werden“, wirft der fremde Mann, in dessen Bett ich mich gerade verstecke, ein. „Scheiß auf die Markise. Wir werden sonst alle sterben. Die brauchst du dann nicht mehr“. Das leuchtet unseren neuen Freunden Jörg und Frauke ein. Dennoch beschließen wir gemeinschaftlich, dass es besser ist, zu Fuß in Richtung Strand zu fliehen, um uns dort im Waldstück zu verstecken. Gesagt, getan. Barfuß geht es durchs Unterholz bis wir nach 100 oder 200 Metern innehalten und uns flach auf den Boden legen. Wir hören immer noch Geräusche aus Richtung des Campingplatzes, sind nicht sicher, ob wir verfolgt werden. Immer mal wieder sind Scheinwerfer oder Taschenlampen zu erkennen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Peter brummelt ständig, endlich aufwachen zu müssen und kneift sich immer wieder in den Arm. Es bringt nichts. Er wacht nicht aus diesem Alptraum auf. Genauso wenig wie wir anderen. Inzwischen ist es 2:02 Uhr.
Nochmal die Polizei anrufen können wir nicht, wir müssen ruhig sein. Stattdessen sende ich Hilferufe in WhatsApp-Gruppen, in der Hoffnung, dass irgendwer um diese Uhrzeit noch wach ist und diesen Part für uns übernehmen kann. „Hilfe. Das ist kein Scherz. Wir werden überfallen. Ruft Hilfe. Kein Scherz. Korsika. Er wird geschossen. Plage d’Albo“, lautet der wirre Text. Ich muss mich beim Schreiben beeilen, denn mein Handy-Display leuchtet in der Dunkelheit zu hell, sodass wir Sorge haben, enttarnt zu werden. Keine fünf Minuten dauert es, bis mehrere Freunde und Arbeitskollegen in München und Berlin die Polizei am Apparat haben. Nur kann die leider nicht viel tun. Die korsischen Kollegen sind offenbar nicht über den kurzen Dienstweg zu erreichen.
Wir harren weiter aus. Immer mal wieder hören wir Geräusche, zwei Mal sehen wir, wie über die Küstenstraße nach Norden je zwei Autos wegfahren. Ob es unsere Angreifer sind, können wir nur mutmaßen.
Rettung?
Gegen halb drei sehen wir ein Auto auf den Campingplatz fahren, jemand leuchtet mit einer Taschenlampe umher. Ist das endlich die Polizei? Sind wir gerettet? Keine Ahnung, denn komischerweise ist weder ein Blaulicht eingeschaltet, noch gibt sich jemand durch Rufen zu erkennen. Ich erkenne von weitem ein Leuchtschild auf dem Dach des Fahrzeugs. Ein weißes, rechteckiges Schild in der Mitte des Dachs, so wie Taxis es haben. Wir bleiben flach auf dem Boden liegen. Mein Gefühl sagt mir, dass das nicht die Polizei sein kann. Nach wenigen Minuten fährt das Auto wieder davon.
Dafür bekommen wir ein neues Problem. Wiederholt hatte Jörg etwas von Wildschweinen geflüstert und plötzlich raschelt es immer lauter. Wildschweine bevölkern Korsika wie anderswo Eichhörnchen oder Kaninchen und eins davon kommt nun direkt auf uns zu. Wie viel Pech kann man haben? Uns bleibt nichts anderes übrig, als unser Versteck Hals über Kopf zu verlassen und in Richtung Strand zu laufen.
Dort beraten wir uns kurz. Mein Einwand, dass wir am Strand keinerlei Sichtschutz mehr haben und damit Freiwild sind, wird überstimmt. Der Rest unserer kleinen Gruppe setzt darauf, dass unsere Angreifer inzwischen abgehauen sind. Vermutlich haben sie Recht, herausfinden will ich es lieber dennoch nicht. Egal, ich habe keinen besseren Vorschlag und so laufen wir geduckt über den Strand weiter. Es ist unmöglich leise zu sein, die Steine reiben durch unsere Schritte knirschend aneinander. In diesem Moment kommt mir das Geräusch unendlich laut vor. Was, wenn sich die Täter in dem alten Wachturm verstecken, der den Strand überblickt? Was wenn sie uns hören und wieder Lust aufs Schießen bekommen? Wenigstens sind die Steine nicht spitz, denn Zeit, um Schuhe anzuziehen hatten wir nicht.
Während wir etwas kopflos und uneinig umher laufen rufe ich um 3:15 Uhr erneut die 112. Wieder will die Feuerwehr mich durchstellen, doch diesmal wird der Ruf nach etwa einer Minute in der Warteschleife unterbrochen. Wohlgemerkt der Notruf. Hier ist heute Nacht wohl nichts mehr zu erwarten…
Inzwischen haben wir das kleine Dorf direkt hinter dem Strand erreicht. Als wir erneut Autoscheinwerfer sehen, verstecken wir uns an einer Hausmauer. Die Häuser sind dunkel, alles scheint zu schlafen. Zudem wissen wir nicht, wem wir vertrauen können. Jörg und Frauke berichten uns vom unfreundlichen Barbesitzer, der sie am Abend nicht bedienen wollte. Würde so jemand mitten in der Nacht vier verwirrte Deutsche ins Haus lassen, die nichts als T-Shirts tragen und behaupten, fast erschossen worden zu sein? Wir entscheiden uns stattdessen fürs Kirchen-Asyl: die kleine Kapelle des Örtchens steht offen und genau dort harren wir frierend den Rest der Nacht aus. Hier ist es zwar minimal wärmer, aber aufhören zu zittern, kann ich dennoch nicht. Alles ist so surreal.
„Wer frei von Sünde ist, werfe den ersten Stein“ – oder gleich 20 davon.
Mit dem Morgengrauen kann ich den Rest der Gruppe nicht länger davon abhalten, zum Campingplatz zurückzukehren. Vorsichtig nähern wir uns gegen 5:20 Uhr dem Stellplatz. Es ist inzwischen fast hell, aber mir ist die Situation nach wie vor nicht geheuer.
Unser Crafter steht noch da. Das ist schon mal gut. Als wir näherkommen, sehen wir die attackierte Seite. Der Schock ist überschaubar groß: Es ist nichts, mit dem wir nicht nach der Nacht nicht bereits gerechnet hätten. Die Fensterscheiben sind mit Einschusslöchern überseht, dazu Dellen und Macken im Lack und in der Karosserie. Das Mosaik aus Zehntausenden Glasscherben wird lediglich noch von der innen klebenden Verdunklungsfolie zusammengehalten. Auf dem Boden liegen mehrere handflächengroße Steine, die eigentlich am Strand liegen sollten. Stattdessen sind einige von Ihnen offenbar an unserem Campervan abgeprallt. Auch eine leere Bierflasche, die am Vorabend sicherlich noch nicht da lag, finden wir unmittelbar daneben. Reste der Flüssigkeit laufen in Striemen an unserem Van hinunter.
Ich halte Inne, bin noch nicht bereit, das Innere auf der anderen Seite zu inspizieren. „Alles noch da“, rufen Peter, Frauke und Jörg, die weniger zögerlich waren. Nun laufe auch ich um den Wagen herum. Und tatsächlich: alles wirkt genau so, wie wir es vor wenigen Stunden verlassen haben. Trotz der die ganze Nacht über weit offen stehenden Seitentür fehlt rein gar nichts. Sogar Peters Handy liegt noch immer gut sichtbar auf dem Tisch. Unsere Fahrräder parken unversehrt auf dem Heckträger. Was für eine Erleichterung! Nicht nur wir sind entgegen unserer Erwartung von 1:37 Uhr noch am Leben und bis auf einige Kratzer unversehrt – wir haben auch nicht unser ganzes Hab und Gut verloren!
Was auf der einen Seite sehr erfreulich ist, ist auf den zweiten Blick zutiefst erschütternd. Man hatte es nicht auf unsere Wertsachen abgesehen. Es war kein Raub zur eigenen Bereicherung. Bei dem Anschlag ging es einzig und allein um uns.
Wir rufen erneut die Polizei und fragen, wo sie denn bleiben. Immerhin ist unser Notruf inzwischen knapp fünf Stunden her. „Wir waren da, aber Sie waren ja nicht mehr anzutreffen“, rechtfertigt der Beamte sich trotzig, „Telefonisch erreichbar waren Sie auch nicht“. Ich muss mich zusammenreißen, nicht patzig zu werden. So ruhig wie möglich erkläre ich unser unerlaubtes Entfernen vom Tatort und dass mich sicherlich niemand in der Nacht angerufen hat. Erneut werden unsere Daten und der Standort durchgekaut. „Ach Sie stehen auf dem Parkplatz? Die Beamten haben am Strand gesucht“, heißt es nun vorwurfsvoll. Da der Parkplatz zum Strand gehört erschließt sich mir der Einwand nicht ganz. Als wir auf die Fahrzeugmarke zu sprechen kommen, gibt sich der Beamte am Telefon überrascht: „Es handelt sich um einen Campervan? Sie sagten heute Nacht Wohnmobil. Wir haben ein Wohnmobil gesucht“. Ernsthaft? Ich das hier alles versteckte Kamera und gleich bringt einer unseren echten Van zurück?! Ihr wart angeblich da, habt aber den unübersehbar durchlöcherten Campervan, der ohne Insassen nachts weit offensteht, nicht weiter beachtet, da das schlecht Französisch sprechende hysterische Mädchen ja nun mal von einem Wohnmobil gesprochen hat? Und wo die Menschen nun sind, die am Telefon gebrüllt haben, umgebracht zu werden, war dann auch etwas für nach dem Schichtwechsel oder wie?! Das alles sage ich lieber nicht laut, sondern verspreche stattdessen diesmal brav direkt am CAMPERVAN, der kein Wohnmobil ist, auf die neue Streife zu warten.
Inzwischen ist der ganze Platz wach. Alle sind überrascht und geschockt. Eine Leipziger Familie hilft mit Panzertape aus, um uns einigermaßen fahrtüchtig zu machen. „Ich habe zwar Schüsse gehört, aber das klang so weit weg. Ich dachte, das wäre in den Bergen“, gibt die Mutter der Familie zu. Ein Franzose, der mit noch mehr Panzertape zur Hilfe kommt, hat zwar nichts gehört, wurde aber irgendwann von dem Scheinwerfer des Autos wach. „Ich habe gesehen, dass jemand mit einer Taschenlampe bei euch am Van stand und mich noch gewundert, warum eure Tür offensteht. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht“, erzählt er bestürzt.
Viele Fragen bleiben zunächst offen: Warum ausgerechnet wir? Warum ausschließlich wir? Warum nicht die 5-6 anderen Camper, die ebenfalls dort übernachtet haben? – „Weil ihr von der Straße aus gesehen das vorderste Fahrzeug wart. Ihr wart das einfachste Ziel“, lautet am nächsten Morgen die einvernehmliche Antwort aller auf dem Platz. Ja, das leuchtet ein. Wobei – die Italiener 20 Meter von uns entfernt, wären auch keine allzu große Herausforderung für die Angreifer gewesen?! Vielleicht wollten die uns einfach einen Schrecken einjagen? Aber warum mit so einer Beharrlichkeit? Hätten es nicht 2-3 Steine auch getan? Warum haben sie nicht aufgehört, als wir um unser Leben geschrien haben? Im Gegenteil, sie sind nach kurzer Pause sogar zurückgekommen und haben erneut angegriffen. Selbst wenn es offenbar doch keine Schüsse aus einer Waffe, sondern „nur“ Steine waren. Zu dem Zeitpunkt war die Scheibe längst zerstört. Das kann auch unseren Angreifern unmöglich entgangen sein. Kaputter ging nicht. Ziel erreicht. Es sei denn, Vandalismus allein war gar nicht das Ziel… Ist es Zufall, dass das Fahrerhaus als einzige Scheibe nicht getroffen wurde? Oder waren für die Täter nur die Scheiben interessant, hinter denen man uns in der Nacht auch vermutet hat?
Nach der zweiten Kanne Kaffee kommt tatsächlich die Polizei und nimmt die Tat zu Protokoll. Neben den Personalien aller Camper, werden etliche Fotos aufgenommen und die neben dem Camper liegende Bierflasche als Beweisstück sichergestellt. Gegensätzlich zur Aussage am Telefon erzählen uns diese deutlich freundlicheren Beamten, dass sie uns gar nicht anrufen können, denn auf ihren Diensthandys seien ausländische Nummern gesperrt. „Pas d’état“, kein Geld, lautet die Erklärung mit einem verächtlichen Schulterzucken des Beamten. „Wollen Sie Anzeige erstatten?“, fragt einer der beiden, bevor sie wieder fahren. Natürlich! Wir sollen am nächsten Tag nachmittags in Saint-Florent aufs Präsidium kommen.
Dann steigen sie wieder in ihr Polizeiauto. Einen SUV mit blauem Blaulicht. Die verbleibenden zwei Wochen auf der Insel schauen ich mir alle Taxen und Polizeiwagen ganz genau an. Alle Polizeiwagen, die uns über den Weg laufen, sind SUVs und haben ein langes, stabförmiges Blaulicht, das quer über die gesamte Breite des Daches verläuft. Alle Taxen, die ich sehe, haben ein weißes Schild in der Mitte des Daches, ähnlich wie in Deutschland. Und so, wie der Wagen, der nachts langsam über den Campingplatz fuhr und mit einer Taschenlampe den Platz abgeleuchtet hat. Gut, dass wir unser Versteck nicht verlassen haben.
Wenigstens sind wir fahrtüchtig. Als wir die Straße langsam hochfahren, baut der Barbesitzer, der Jörg am Vorabend nicht bedienen wollte, gerade seine Tische auf. Wir halten und fragen kurz, ob er nichts mitbekommen hat. Er weiß bereits, worum es geht, scheinbar wäre die Polizei bereits da gewesen. „Sorry, ich habe um 23 Uhr geschlossen, leider weiß ich nichts. Vermutlich waren es die Asiaten,“ behauptet er. Die Asiaten? Welche Asiaten? Ich habe auf der ganzen Insel noch keine Asiaten gesehen. Komische Aussage.
Wir fahren vorsichtig in den nächsten größeren Ort, an dem wir morgen unsere Aussage machen werden und beziehen einen Campingplatz. Wir wählen den größten mit den meisten Menschen und stellen uns so mittig wie möglich. Gegen Mittag sinkt der Adrenalinspiegel und die Ereignisse der Nacht werden uns so richtig klar. Der Rest des Tages ist der Horror. Wir können kaum glauben, was passiert ist. Wir hätten tot sein können! Zwischendurch kommt mir alles surreal vor, als hätte ich einfach einen etwas zu realen Thriller im Kino gesehen. Habe ich vielleicht doch nur geträumt? Nein, die Scheiben erinnern uns regelmäßig daran, dass das alles zwar ein Alptraum war, aber eben keiner, der nur im Kopf stattfand.
Je mehr Leuten wir von unserem ganz persönlichen Horrorfilm erzählen, umso mehr wird uns umgekehrt berichtet. Jeder kennt einen, der einen kennt. Dass die Korsen die Festlandfranzosen nicht sonderlich mögen und es erst kürzlich wieder Aufstände in Verbindung mit der Forderung nach Unabhängig gab, war uns bewusst. Dass das einige Insulaner ihr Temperament so wenig im Griff haben, hatten wir so nicht geahnt. Von brennenden Wohnmobilen und Ferienhäusern wird uns erzählt, eine Bekannte berichtet, dass man versucht habe, sie und ihren Mann hat, von einer schmalen Küstenstraße die Klippe hinab abzudrängen: „Man hat uns sehr deutlich gemacht, dass wir nicht willkommen sind“. Die harmlosere Variante sind beschmierte Autos und eingeschlagene Fensterscheiben. In einem Artikel der Stuttgarter Zeitung ist von mafiaähnlichen Strukturen befeindeter Gruppierungen und „Blutrache“ die Rede.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Gebot der Aufklärung mit dem Gesetz des Schweigens kollidiert. Gut 300 000 Einwohner zählt die Insel. Zu wenig sind das, als dass im anonymen Dunkel untertauchen könnte, wer bei der Polizei auspackt. Über Verbrechen spricht man nicht, lautet ein auf der Insel beherzigter Ratschlag.”
(Autor Axel Veiel in seinem Artikel in der Stuttgarter Zeitung)
Direkt muss ich an den Barbesitzer denken. Mit Sicherheit wissen alle im Dorf, wer für die Aktion in Frage kommt. Die höchste Mordrate Europas soll Korsika außerdem aufweisen. Wir sind heilfroh, nicht zur Aufrechterhaltung der Statistik beigetragen zu haben. Dennoch glaube ich es sofort. Als wir Stunden nach unserem Überfall beim Bäcker halten, sticht mir die Titelstory des korsischen Boulevardzeitung an der Kasse ins Auge: „Man auf Parkplatz getötet“.
Am Nachmittag bekommt der Fall dann noch eine unerwartete Wendung: Jörg und Frauke, unsere nächtlichen Begleiter, rufen an. Bereits zuvor hatten sie und die anderen Camper uns von einem deutschen Pärchen erzählt, die ohne zu übernachten, den Platz wieder verlassen hatten, nachdem sie mit einem Korsen gesprochen hatten. „Wurden sie wohl gewarnt?“, hatte man morgens noch gemutmaßt. Nun kommt die Aufklärung. Durch Zufall haben die beiden Hamburger das Rentnerpaar aus Bad Reichenhall wiedergetroffen. Natürlich gab es nur ein Gesprächsthema. Kreideblass soll der uns unbekannte Deutsche geworden sein, als er von der Sache erfahren hat. „Das hat uns gegolten“. Das Pärchen war zuvor am Strand baden. Als sie aus dem Wasser kamen, haben sie sich am Strand umgezogen. Dabei haben sie sich offenbar nicht groß geniert und waren kurz nackig. Ein korsisches Pärchen, etwa Anfang 20 Jahre, muss daraufhin komplett ausgetickt sein. Schimpftiraden prasselten ihrer Aussage nach auf die deutschen Rentner für das vermeintliche Nacktbaden ein. Als die beiden schließlich den Strand verlassen, fliegt ein Stein in ihre Richtung und verfehlt sie nur knapp. Kurz drauf kommt jemand zu ihrem Stellplatz, der sich als Bürgermeister vorstellt und aufgrund der Beschwerde einen Platzverweis ausstellt. „Sie dürfen heute Nacht noch bleiben, aber morgen Früh müssen Sie weg sein“, soll der Bürgermeister bestimmt haben. Die Bayern fühlen sich daraufhin so unwohl, dass sie kurz drauf beschließen, lieber gleich abzuhauen. Mit ihrem wohlgemerkt grünen VW-Camper mit deutschem Nummernschild. Mutmaßlich bekommt das niemand mehr mit. Dafür kommen kurz drauf Peter und ich. Mit unserem grün-weißen VW-Camper und parken zwar nicht exakt an der gleichen, aber sehr ähnlich liegender Stelle. Wer kann sowas nachts im Dunkeln nach ein paar Bier schon so genau erkennen?
Eins und eins sind schnell zusammengezählt, alle Indizien sprechen für einen Racheakt. Einen Racheakt bei dem die Täter zu blöde waren, die zu treffen, gegen die sich ihr Hass gerichtet hat. Deshalb hat es nur uns getroffen, deshalb die Vehemenz. Deshalb wurde nichts gestohlen. Es war einfach nur blanker Hass.
Wie armselig muss man sein? Wir viel Hass in sich tragen? Von so erbärmlichen Würstchen wollen wir uns nicht nachhaltig beeinträchtigen lassen. Was für ein schlechtes Leben an einem so schönen Ort muss man führen, dass man so verbittert werden kann? So verbittert und voller Hass wollen wir nicht werden. Nicht allgemein und auch nicht gegenüber Korsika. Der Überfall war ein Alptraum, aber er ist vorbei. Wir sind unverletzt und am Leben. Das wollen wir genießen. Sogar – nein insbesondere – auf Korsika. Und deshalb entscheiden wir zu bleiben und der Insel eine zweite Chance zu geben. Nachdem der Schock überwunden ist, verbringen wir noch einige schöne Tage auf der sogenannten „Insel der Schönheit“ und lernen deren friedliche Seite kennen. Korsika ist wirklich unheimlich schön und vielfältig. Und das Wichtigste: Die deutliche Mehrheit der Bewohner ist äußert freundlich zu uns.
Die Polizei ermittelt übrigens lediglich wegen Sachbeschädigung. „Ist ja niemand gestorben“. Von den Tätern und deren Auto inklusive Nummernschild liegt ein Foto vor. Das hatten die Bad Reichenhaller nach dem Steinwurf am Strand heimlich aufgenommen. Von einem Ermittlungsfortschritt der Polizei hören wir dennoch bis Ende unseres Urlaubs nichts mehr.
Unterm Strich können wir Korsika trotzdem positiv in Erinnerung behalten. Allem Optimismus zum Trotz werden wir wohl dennoch nicht so schnell wiederkommen.
Für ein möglichst authentisches Nachempfinden habe ich einige Passagen bewusst in Französisch belassen und so geschrieben, wie es mir in Erinnerung geblieben ist – inklusive aller Fehler. So kann jede(r), der selbst Französisch spricht selbst beurteilen, ob er oder sie mich als Polizist am Telefon verstanden hätte…
Du möchtest mehr Reisegeschichten von uns lesen? In unserem Buch „Kein Ziel ist das Ziel“ berichten wir von unseren Erlebnissen auf unserer Campervan-Reise von Alaska nach Rio de Janeiro. Kleiner Spoiler: Diesmal versucht niemand uns zu töten 🙂
FAQs 🙂
Stand August (Der Überfall war im Mai) haben wir von der französischen Polizei nichts gehört. Wie auch? Sie können ja keine deutschen Nummern anrufen 🙂 Aber sie hätten genau deshalb meine Email-Adresse. Da kam aber auch nichts. Dafür hat sich die Berliner Polizei nochmal telefonisch gemeldet und eine halbe Stunde alles angehört. Letztlich schreiben sie aber nur einen Tätigkeitsbericht, da sie nicht zuständig sind.
Jein. Die Teilkasko zahlt abzüglich Selbstbehalt die Scheiben. Die Schäden an Lack und Karosserie werden nicht übernommen und solange die Täter nicht gefunden und dafür haftbar gemacht werden, werden wir sie ignorieren, da es so gesehen ein wirtschaftlicher Totalschaden wäre.
Steine. Akustisch ist da kein Unterschied. Die “Schüsse” kamen in Sekundenabständen, so schnell kann niemand werfen (es waren wohl mehrere Täter), daher mussten wir von Schüssen ausgehen. Auch andere Camper haben berichtet, Schüsse gehört zu haben, dachten aber, es sei weiter weg.
Nein. Wir sind zwei Wochen mit Müllsäcken an der Seite gereist, da neue Scheiben eine Lieferzeit von mindestens 10 Tagen hatten. Daher lassen wir es dann zuhause machen und parken solange nur auf dem Campingplatz und fahren ab da mit dem Fahrrad zu einzelnen Tageszielen weiter.
Manchmal. Unerwartete Geräusche sind etwas doof. Aber wir sind tapfer und hart im Nehmen 🙂
6 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Moin Svenja,
das hast Du sehr schön geschrieben. Im nachhinein musste ich über einige Passagen sogar richtig lachen obwohl es in live wirklich dramatisch war.
Ich hoffe es geht euch gut.
Viele Grüße aus Hamburg
Jörg
Sehr dramatisch und unschön, vor allen, weil ihr nicht mal wild gestanden seid. Wann war das?
Hi Mike,
ja es war wirklich eine der krassesten Situationen, die wir je erlebt haben. Genau, es war kein Wildcamping, sondern ein Stellplatz, wo zumindest in der Hauptsaison morgens jemand rumkommt und 10 EUR einsammelt.
Das war im Mai 2022 passiert.
Viele Grüße
Svenja
Hallöchen,
ahauhahauhahe ….. ich hoffe, ihr habt euch vollends von dem Schock erholt.
Ich war letztes Jahr Ende September in Oktober rein auch 2 Wochen im Camper auf Korsika unterwegs. Ich habe nur free-camping gemacht, aber keinerlei Probleme gehabt. An einer Stelle wurde bei Nacht mal gehupt und aus dem Fenster gerufen “No free-camping”
Gut dass ich eure Geschichte nicht vorher erlebt gelesen habe. Ich wäre vermutlich nicht gefahren.
Jetzt mit Abstand und da bei mir alles problemlos war, denke ich gerade darüber nach, ob ich dieses Jahr noch mal fahre. In meinem selbst umgbauten Fiat Panda zum Mini-Camper.
Euch alles Gute, und dass sich sowas nie wiederholt.
LG
Ich habe das gleiche erlebt unten am Strand bei Nonza. Es wurden x Steine von oben auf alle Vans geworfen, ein Stein hat mich an der Schulter getroffen. Dachzelt durchlöchert, Scheibe kaputt….Ich bin damals mit offenem Dachzelt hinterhergefahren, was wohl auch eine doofe Idee war. Meine damalige Freundin von Nonza meinte auch, dass es sich hier um ein paar Idioten handelt die im dunkeln Camper angreifen und vescheuchen wollen.
Krass, dass es bei dir ähnlich war! Wir haben in der Situation ausgeschlossen, dass es Steine sind, weil sie sehr schnell nacheinander kamen und wir dachten, so schnell könne niemand werfen. Das Treffen der Scheibe klang für uns wie Schüsse und in der Situation mitten aus dem Schlaf gerissen, kann man auch kaum klar denken. Wir dachten wirklich, nun zu sterben. Und auch rückblickend halte ich unsere damalige Einschätzung der Lage nicht für übertrieben.
Hätten wir gewusst, dass es “nur Steine” sind, hätten wir uns auch sicherlich mehr getraut und wären vielleicht weggefahren oder hätten uns in irgendeiner Form gewährt.
Hast du damals die Polizei gerufen oder Anzeige erstattet?